Erstes Buch
Blitzlicht und Öffentlichkeit
Die schwere Holztür öffnete sich. Der Angeklagte kam langsam, aber sichtlich erleichtert aus dem Sitzungssaal. Die Reporter drängten zu ihm und die Blitzlichter ihrer Kameras schossen hoch, so hoch, dass er zum Schutz ein wenig die Hand vor die Augen nehmen musste. Man hatte fast den Eindruck, hier würden Waffen auf eine Person gerichtet. So blitzte und klackte es rhythmisch. Aber es fehlte doch glücklicher Weise jener zerstörerischer, klatschender und tropfender Ton einer Pistole. Der Mann, den sie da bestürmten, ließ es daher lächelnd und fast gutmütig geschehen.
" Herr Karvalan,“ rief eine Reporterin aus der Menge: " Was sagen Sie zu dem Urteil? Sind Sie erleichtert ?" Es war viel Publikum und auch eine größere Zahl von Presseleuten erschienen, die nach dem Abschluss des Verfahrens auf ganz aktuelle Stellungnahmen warteten.
" Natürlich bin ich froh," erwiderte der Angesprochene . " Und was ich schon immer erklärt habe. Ich trage an der ganzen Sache keine Schuld. Das ist nun endlich entschieden worden. Der Mann ist direkt in das Fahrzeug gelaufen.“
Hinter dem Angeklagten strömten jetzt aus dem Sitzungssaal immer mehr Personen auf den Gang. Sie waren in dem Verfahren, das in der Öffentlichkeit erhebliches Aufsehen erregt hatte, Prozessbeteiligte und weitgehend auch Zuhörer gewesen.
" Herr Brömer,“ rief jetzt ein anderer Reporter. " Sie sind doch Kollege gewesen. Sie kannten den Richter näher. Können Sie zu dem Richter etwas sagen, das hier im Prozess nicht erörtert wurde?“ Der Angesprochene wandte sich zu dem Pressemann, der ihm bekannt zu sein schien und die weiteren, hinter ihm stehenden Personen blieben stehen." Herr Brömer, Sie haben doch mit ihm zusammen gearbeitet. Wie war er als Kollege, als Mensch? War er schwierig, war er selbst-gefällig ? Hat er am Ende das alles selbst inszeniert? “
Weitere Reporter traten jetzt ebenfalls näher an den angesprochenen Mann namens Brömer heran. " Im Verfahren ist das Persönliche doch völlig offen geblieben," rief jetzt der Reporter." Herr Brömer, gibt es denn dazu überhaupt kein Material ? Wir haben hier immer nur von Fakten, dem Tatgeschehen und den widrigen Verkehrsverhältnissen gehört. Personenbezogene Umstände, die für das Geschehen doch ebenfalls eine erhebliche Rolle spielten, sind gar nicht erörtert worden. Gab es denn so zu sagen innerbetriebliche Dinge, die, sagen wir 'mal, justizintern behandelt werden sollten?
Und dann, hatte der Richter Probleme, berufliche oder persönliche? Im Prozess klang an, dass es Verbindungen zum Rotlichtmilieu gab? “
" Meine Herren! Ihre Fragen füllen ja ganze Spalten der Boulevardblätter. Meinen Sie wirklich, dass ich da etwas nachzutragen hätte und dass das der Sache angemessen wäre? Wenn es wirklich etwas zu ergänzen oder nachzutragen gegeben hätte, dann hätte ich das gewiss in der Verhandlung gesagt. Dazu hat es die Hauptverhandlung gegeben. Es gibt also nichts zu ergänzen. Und was Sie da nachfragen oder spekulieren, ist nicht nur abenteuerlich. Es ist auch absurd! Der Kollege hatte keine Verbindung zum Rotlichtmilieu. Er war, wenn ich das noch einmal ganz deutlich sagen darf, lediglich einmal zu einem Gespräch und dann noch ein zweites Mal zu einer abschließenden Rücksprache in dem angeblich nicht gut beleumdeten Lokal. Dabei standen allein zwei ganz normale Rechnungen über Getränke in dem Lokal zur Debatte. Und der Kollege war - das haben Sie doch alle gehört - zuletzt gar nicht mehr im Dienst. Er war krank geschrieben und es ging ihm nicht gut.“
" Aber seine Frau war in keiner Verhandlung. Hatte er Probleme in seiner Ehe, gab es andere Frauen?“
" Also, meine Herren! Er war seit Jahrzehnten mit einer wunderbaren Frau verheiratet. Er war ein sehr erfolgreicher, kluger und anerkannter Mann. Sein Rat wurde von den Kollegen allgemein geschätzt. Vielleicht war er manchmal ein bisschen eigen. Nun, ja, wer ist das nicht. Er hatte viele gute Ideen. Aber es gab keine Besonderheiten. Jeder hat auch einmal schwierigere Zeiten. Herr Hauptstein hatte ein bewegtes Leben. Seine Jugend war schon ganz anders, als wir uns das heute vorstellen können. Aber das liegt heute alles Jahrzehnte zurück. Der Kollege war ein integerer, besonnener und vorbildlicher Charakter.“
" Und das wissen Sie woher?“, rief jetzt ein anderer Reporter." Im Prozess hat man davon nichts gehört." Der angesprochene Herr Brömer dachte einen Moment über die zuletzt gemachte Bemerkung nach, als Kriminalhauptkommissar Ahrensberg, der die Gesamtermittlungen in der Sache hier geleitet hatte, aus der Saaltür trat und sich nun ihm alle, auch der eben noch fragende Reporter, zuwandte. Eine weitere Antwort durch den Richter Brömer erübrigte sich daher.
" Herr Ahrensberg,“ wandten sich jetzt die Presseleute dem Kriminalhauptkommissar Ahrensberg zu. " Sie waren doch federführend in dem gesamten Verfahren, können Sie uns zur Persönlichkeit des Richters, zu den Hintergründen des Verfahrens und den persönlichen Umständen noch etwas sagen, was für das Gesamtverständnis des Falles wichtig ist."
Ahrensberg schüttelte den Kopf. " Tut mit Leid, meine Herren. Mehr als das, was ich vor Gericht erklärt habe, haben wir nicht ermittelt. Ich kann ihnen daher nichts Weiteres sagen. Unsere Aufgabe bestand darin, die Tatumstände zu ermitteln und alle diesbezüglichen erheblichen Fakten der Staatsanwaltschaft zur Verfügung zu stellen. Das haben wir getan. Mehr hatten wir nicht zu tun. Dass das stets nur ein Teil einer vielleicht viel größeren Gesamtproblematik ist oder sein kann, ist denkbar, aber nicht das Aufklärungsziel der Polizei."
Ahrensberg lächelte freundlich, verabschiedete sich und bahnte sich danach einen Weg durch die Reporter- und Menschenmenge. Er winkte seinem Kollegen Thomas Krause zu, der schon viel weiter vorn stand und verschwand, wie auch der vor ihm angesprochene Richter Brömer, in den weitläufigen Fluren des Gerichtes.
*
Zu dieser Zeit im Brandenburgischen
An jenem Tag fiel dichter, dünner Regen. Ein Tiefdruckgebiet, das vom Atlantik kam, schob sich an den Küsten der Nord- und Ostsee entlang von Ostfriesland bis nach Usedom, in die Mitte des Landes von Mecklenburg bis herunter nach Bayern und von dort weiter bis an die Grenzen der Republik. Es war, als wäre hier großflächig etwas auszuspülen und weg zu tun, das nicht nur aus dem letzten Sommer, sondern schon eine erheblich längere Zeit unerledigt zurück geblieben war. Ein nasskalter, trüber Novembertag zog schwerfällig herauf, durchstieg langsam den Nebel und jetzt, zwischen drei und vier Uhr morgens, war es noch so dunkel, dass man kaum die Hand vor Augen sah. Manchmal hatte man den Eindruck, es wird bereits heller. Aber es war noch nicht so weit.
Zu dieser Zeit saß Nicolas Hauptstein auf dem Rastplatz Zernsdorf bei Niederlehne an der Autobahn A 12 im Brandenburgischen, etwa zwanzig Kilometer süd-östlich von Berlin, in seinem Wagen, und hoffte, dass er nun bald kommen würde. Die Sache musste jetzt zu Ende gebracht werden. Er nahm aus der inzwischen fast leeren Flasche Scotch, es war ein fast zwölf Jahre alter Scotch Dimpel, immer wieder einen kräftigen Schluck und machte eilig Notizen. Sie wollte er den bereits umfangreichen Blättern seines grünen Hefters noch unbedingt hinzufügen. Er war hell-wach und dennoch abgespannt, vor allem aber auch stark angetrunken, denn er hatte zu seinen Muntermachern - so nannte er seine Aufputschtabletten - immer wieder Scotch getunken und war ohne längere Pause die ganze Nacht durchgefahren. Alle Einzelheiten hatten Orlow und er genau abgesprochen und als Treffpunkt den hiesigen Autobahnrastplatz Zernsdorf bei Niederlehne ausgemacht.
Hauptstein war vorbereitet und hatte - wie er meinte - alles bedacht. Er lauschte, während er schrieb, auf jedes Motorengeräusch, das auf seiner rechten Fahrbahnseite der Autobahn heran kam.
Aber da war noch nichts, was ihn aufmerken ließ. Es war auch noch Zeit. Nur hin
und wieder fuhr ein Fahrzeug vorüber. Sonst war nur Nacht und Dunkelheit. Er
war reichlich vor der verabredeten Zeit hier angekommen, hatte das Außenlicht
seines Wagens gelöscht und den Wagen so abgestellt, dass er schon von weitem
das Fahrzeug von Davidow sehen konnte. Von der Innenbeleuchtung hatte er nur
ein Lampe eingeschaltet, die mit einem dünnen Lichtschein das vor ihm liegende
Papier erhellte.
Hauptstein trank aus der Flasche erneut einen Schluck Scotch, stellte sie auf den Nebensitz und blätterte noch einmal die Seiten durch, die er zuletzt geschrieben hatte.
Alles genau aufschreiben, das war - wie er sich entschlossen hatte - die einzige Möglichkeit, darüber Klarheit zu gewinnen, was ihn in diese Situation gebracht hatte.
Erst wenn die Sache hier erledigt war, würde er wieder klar nach vorn blicken und seine Dinge in Ordnung bringen können.
Er tippte mit dem Schreibstift gegen das Lenkrad, war mit seinen Aufzeichnungen zufrieden und meinte, dass Orlow jetzt eigentlich jeden Augenblick kommen könnte.
Was er sich vorgenommen hatte, war keine leichte Entscheidung. Doch wie die Sache nun einmal lag, gab es keine Alternative. Für Viele und sicher auch für Davidow wird diese Aktion unfassbar sein. Aber Davidow würde nichts ahnen. Er war sehr vorsichtig
gewesen.
Er kontrollierte noch einmal den Benzin-Kanister im Fond und die beiden Feuerzeuge, die auf der Mittelkonsole lagen. Dann entzündete er sich eine Zigarette. Die letzten Notizen, die neben ihm lagen, heftete er in den grünen Hefter und fügte noch hier und dort einige Anmerkungen hinzu.Von seinen Aufmunterungs- und auch Beruhigungstabletten -
Alderall, Captagon, Tavor, Dolantin - hatte er jetzt keine mehr. Sie vertrugen
sich mit dem Scotch auch nur leidlich, denn trotz aller Anspannung und
Konzentration war ihm jetzt ziemlich schwindlig und sah er die Umgebung um sich
nur undeutlich und verschwommen. Trotzdem blickte er in kurzen Abständen immer
wieder von seinen Blättern hoch nach draußen in die Nacht.
In der Ferne sah er jetzt durch die regen-nassen Scheiben auf seiner, der vor ihm liegenden rechten Autobahnfahrbahn ein Fahrzeug und dann ein weiteres, das direkt auf den Rastplatz zuhielt. Das erstere, helle war das von Davidow. Die Lichter wurden
zunehmend größer und flammten jetzt sehr deutlich auf. Es war neben dem
kleineren, noch ein anderes Fahrzeug auf der Fahrbahn.
Aber, was tat der Fahrer des Pkw? Er wurde langsamer, zog vor dem Rastplatz auf die linke Seite und machte Anstalten, auf dem linken Fahrstreifen an dem Parkplatz vorbei zu fahren. Was sollte denn das?! Wollte er ihm entkommen?
Hauptstein versuchte eben noch den Satz zu Ende zu bringen, kritzelte ihn jetzt irgendwie hin, warf den Kugelschreiber und die Aufzeichnungen eilig in die Aktentasche und riß der Tür auf. Die Scotch-Flasche neben ihm kippte in die Polster, was er mit einem
kurzen Fluch bedachte und dann war er aus dem Wagen. Er rannte hinauf in die
Böschung und dann, ohne weiter um sich zu blicken, auf die Fahrbahn. Er musste
doch Orlow aufhalten, musste ihn heranwinken und auf sich aufmerksam machen.
Ein Personenwagen mit einem ausländischen Kennzeichen kam jetzt ziemlich schnell an den Parkplatz heran, während rechts neben ihm, fast auf gleicher Höhe, ein schwerer Lastzug fuhr. Kurz vor dem Rastplatz Niederlehne waren nun beide Fahrzeuge so dicht bei einander, dass insbesondere der Lkw mit seinen weiß-gelben Scheinwerfern, hohe Regenwasserfontänen um sich spritzend, direkt auf Hauptstein zufuhr. Der aber
machte keine Anstalten an den Rand der Fahrbahn zurück zu weichen. Wild
gestikulierend und winkend lief er vielmehr auf das Fahrzeug zu. Die Situation
war gespenstisch, zumal der Regen zugenommen hatte und die Sicht äußerst
schlecht war. Der Fahrer des Personenwagens, dem Hauptsteins seine ganze
Aufmerksamkeit widmete, war jetzt auf der Überholspur abgedeckt durch dem
Lastzug und sah nun überhaupt nichts von dem, was rechts von ihm geschah. Er
gab daher Gas und fuhr unbeirrt den Lastzug überholend auf seiner Fahrbahnseite
weiter.
" Orlow, " schrie Hauptstein, " Orlow, so hören Sie doch“ und lief weiter auf die
Fahrbahn." Ich bin doch hier! Bleiben Sie doch stehen! "
Aber zu mehr kam er dann nicht. Denn unmittelbar nach diesen Worten traf ihn ein schwerer Schlag und er hatte das Gefühl, dass sich alles um ihn herum auflöste. Tatsächlich wurde Hauptstein in diesem Moment von der Frontseite
des Lastzuges rechts vorn erfasst, mit großer Wucht gegen den Drei-Tonner
geschlagen und von dort auf die Fahrbahn zurück geschleudert, wo er etwa zehn,
fünfzehn Meter weiter hart auf den Boden schlug und dort regungslos liegen
blieb. Der Lastzug, der sofort voll bremste, rutschte auf der regen-nassen
Fahrbahn fast zwei Fahrzeuglängen an Hauptstein vorbei, bevor er laut krachend
an die Mittelstreifenbegrenzung prallte und dort eine große Lücke reißend zum
Stehen kam. Unmittelbar danach sprangen der Fahrer und eine weitere Person aus
dem Lastzug, sicherten mit Rundumlicht die Unfallstelle und liefen zu dem
Verunglückten, der bewusstlos vor ihnen lag.
Schon wenige Minuten später hielten die ersten Fahrzeuge und griffen Helfer zu ihrem Telefon, um für den Schwerverletzten Hilfe herbei zu rufen. Laute Stimmen und Kommandorufe, blinkende Leuchten und aufgeblendete Scheinwerfer berherrschten bald danach das Bild, während es sonst an diesem Morgen im Brandenburgischen, bei
Zerndorf/Niederlehne, nahe dem Rastplatz 2 und unweit des dortigen Autohofes
weiter still, nass- kalt und dunkel blieb.
*
Als Kriminalhauptkommissar Peter Ahrensberg und sein Assistent Thomas Krause eine halbe Stunde später eintrafen, hatten die Beamten bereits die Unfallstelle weiträumig abgesperrt und den Notarzt gerufen.
Man hatte Hauptstein aufgrund seiner schweren Verletzungen sofort in das
Universitätskrankenhaus Potsdam gebracht. Ahrensberg und Krause sahen sich die
Unfallstelle sorgfältig an. Es hatte hier in den vergangenen Wochen Steinwürfe
von der Autobahnbrücke gegeben. Sie erkundigten sich daher nach entsprechenden
Spuren, weiteren Beobachtungen und sprachen mit Zeugen, vor allem mit dem Fahrer
des Lastzuges, der auf den Verunglückten zugerast war. Der Fahrer und sein
Kollege standen deutlich unter Schock, so dass sie nur sehr kursorisch befragt
werden konnten. Krause wollte sich später darum kümmern.
Nach ersten Überprüfungen hatten weder er noch sein Fahrer-Kollege die Lenkzeiten überschritten, hatten sie keinen Alkohol getrunken und gaben die Bremsspuren des Lastzuges wegen der Nässe der Fahrbahn zur Zeit kaum Aufschluss darüber, mit welcher Geschwindigkeit das Fahrzeug im Unfallzeitpunkt gefahren war. Beide Fahrer hatten angegeben, dass sie bis kurz vor dem Aufprall in der Dunkelheit und im Regen niemanden auf der Fahrbahn gesehen zu hätten. Kurz vor dem Aufschlag vielleicht noch einen Schatten, aber dann habe der Fahrer auch schon gebremst, hatte der
Fahrerkollege hinzugefügt. Die Person sei dann direkt zur Seite weggescheudert
worden. Außer einer Vollbremsung habe man
nichts machen können.
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Eine Grenze durch Deutschland
Irgendwann weichen Angst, Panik und Hilflosigkeit einer großen Leere. Irgendwann ist da nichts mehr, was einen lähmt und fast erdrückt.
In der gesamten Mecklenburgische Bucht von der Insel Pöhl, von Rerik über Kühlungsborn, Warnemünde bis nach Zingst waren seit längerer Zeit die Sicherheitsanstrengungen der Grenztruppen der DDR massiv verstärkt worden. Unmittelbar an der Küste, etwa ein Kilometer vor dem Strand und den Dünen waren ganze Strassenzüge und Landstriche zu Sperrgebieten erklärt worden. Nur mit Sondergenehmigungen kam man als Anwohner oder Besucher in die Nähe der See. Unweit der Strände der Fischerdörfer und Ostseebäder waren weitläufig Sperrzäune und Stacheldrahtverhaue errichtet und in einigem Abstand aus Beton pilzartig aufragende Grenztürme in großer Zahl aufgestellt worden, die eine flächendeckende Beobachtung weit ins Land und auch auf die See ermöglichten. Republikflüchtige wurden daher, wenn sie nicht bereits vorher verraten worden waren, bereits im Vorfeld ausgespäht oder wenn sie doch noch das Meer erreicht hatten, kilometerweit auf der See optisch und funktechnisch verfolgt.
Auf einem dieser 70 fünfzehn Meter hohen Grenztürme, dem Grenzwachturm BT 11, kurz vor dem Strand des Ostseebades Kühlungsborn, der wegen seiner hohen Effizienz beim Aufspüren von Grenzverletzern eine traurige Berühmtheit erlangt hat, versahen an diesem Abend vier Grenzsoldaten unter dem Kommando eines Hauptfeldwebels Dienst. Drei von ihnen befanden sich auf der obersten Plattform, in der die Glasfenster der
Kanzel einen Rundum-Blick von dreihundertsechzig Grad ermöglichten, während
einer von ihnen eben herabstieg, um sich in der Nähe des Wachturmes zu
erleichtern. Die Anderen suchten routinemäßig das Vorland, den Küstenstreifen
zur See und das Wasser ab, als über Funk die Nachricht eintraf, dass vier
Grenzverbrecher unterwegs seien und mit einem Grenzdurchbruchsversuch im
Küstensektor in ihrem Bereich zu rechnen sei. Die auf dem Turm befindlichen
Soldaten bestätigten den Eingang der Meldung und erhöhten sofort ihre
Alarmbereitschaft, während der vierte Soldat eben bei seiner Rückkehr in die
neue Situation eingewiesen wurde. Auch er überprüfte sofort sein Sichtfeld und
die Einsatzbereitschaft seiner Schuss-Waffe, von der er selbstverständlich -
wenn nötig - nach kurzem Anruf über Lautsprecher unverzüglich Gebrauch machen
würde. Denn das war Dienstpflicht und der Befehl der fast täglichen Schulung,
dass jeder Grenzverletzer als Staatsfeind und Krimineller der Republik
schwersten Schaden zugefügt hatte und daher zu stellen und - wenn anders nicht
möglich - zu vernichten war. Gelang das am Strand nicht mehr, wurden die
Grenzverletzer also erst auf See entdeckt, dann erfolgte augenblicklich die
Funk-Mitteilung zur Verfolgung der Flüchtigen an die Grenzschiffeinheiten in
das Grenzmeldenetz. Das war im Bereich des Grenzwachturms BT 11,
Kühlungsborn, bisher sehr erfolgreich verlaufen.
Von diesen Sicherungsmaßnahmen wussten aber auch Lothar Dombrowski, Inga, Tina Hauff und Ralf Sinners. Felber und seine Freunde hatten sie darüber genauestens informiert und daher von einer Flucht über die Ostsee dringend abgeraten. Eine Flucht nach Lübeck, Fehmarn oder dem dänischen Gedser war bei diesen Grenzsicherungen nahezu aussichtslos. Die Vier wählten daher einen anderen Fluchtweg, der, wie Felber von Helfern und Freunden aus dem Schweriner Raum erfahren hatte, allerdings nur wenige Tage durchführbar war.
So blieb es an jenem April-Abend des Jahres 1966 bei Windstärke drei bis vier am Grenzabschnitt Küste nicht nur auf der Insel Pöhl, in Rerik, Warnemünde und bis hinauf nach Zingst völlig ruhig, sondern auch auf dem Grenzwachturm BT 11 im Ostseebad Kühlungsborn ergaben sich keine besondere Vorkommnisse. Ganz anders aber war es weiter unten im Land, in der Gegend von Schwerin und Zarrentin, am grenzüberschreitenden Schaalsee. Auch dort war die Nachricht von einem illigalen Grenzübertritt von mindestens vier verdächtigen Personen angekommen und hatte die Sicherungskräfte in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt.
Lotti, Inga, Tina und Sinners hatten sich für ihre Flucht nicht für den Ratzeburger See, sondern für den etwas südlicher gelegenen Schaalsee mit dem Ziel Mölln entschieden. Sie hatten dort von Bauarbeiten an den Grenzsanlagen und damit erheblich geringeren Sicherungen erfahren, die allerdings nur wenige Tage andauern sollten, in dieser Zeit aber einen wesentlich erleichterten Übergang ermöglichten. Diese Zeitspanne wollten sie nutzen.
Gegen Mittag ihres Abreisetages waren sie in Zarrentin angekommen. Bekannte von Felber hatten ihnen Sondergenehmigngen für das Sperrgebiet und eine Übernachtungsmöglichkeit besorgt. Dort waren sie nach den letzten Einweisungen wegen der erhöhten Gefährdungslage sich selbst überlassen worden. Am Vormittag des folgenden Tages hatten sie noch einmal alles durchgesprochen, die letzten Vorbereitungen getroffen und am Nachmittag sich mit den genauen örtlichen Gegebenheiten des Übergangsbereichs und dem Tätigkeitsrythmus der Grenzsoldaten vertraut gemacht. In der Dunkelheit des Abends war der Grenzübergang geplant. Lotti drängte zur Eile, da ihnen ganz sicher nicht mehr als zwei Tage zur Verfügung standen, ohne dass Nachforschungen nach ihnen erfolgten und auch Katrin Korbjuweit sie zurück
erwartete. Bei Gadebusch waren sie dann aber in eine Kontrolle geraten und
hatten gerade noch ihren Aufenthalt mit einem Besuch bei Freunden in Schwerin
erklären können. Sie hatten dadurch aber diesen Tag als Fluchttag verloren.
Nach der Kontrolle mussten sie nämlich davon ausgehen, dass ihre Fahrt in der
Nähe des Grenzgebietes kilometerweit überwacht wurde, so dass sie diesen Abend
nicht mehr für eine Flucht nutzen konnten. Sie übernachteten daher noch einmal
in einer kleinen Pension in der Nähe des Grenzgebietes und versuchten am nächsten
Tag erneut in einem Umweg die in Aussicht genommene Fluchtstelle am Schaalsee
zu erreichen. Das gelang.
Als sie endlich in der Dämmerung das letzte Wegstück begannen, jeder in seinem Rucksack den Plastikanzug, die Badeschuhe und etwas Werkszeug ( Zange, Schraubendreher ) für die Zäune, war abgesprochen, dass sie - wenn irgend möglich - zusammen bleiben sollten, im Notfall aber jeder für sich allein gehen und letztlich auch für sich entscheiden müsste, wie
er die Grenzsperren überwinden könnte. Sicherheit für sich selbst war dabei das
oberste Gebot, denn alle wußten, dass gnadenlos geschossen wurde.
Das Gelände, das zum See führte, war
weiträumig abgesperrt. Große Schilder markierten das Grenzgebiet als
Sperrgebiet und die Beleuchtung an den Holz- und Metallmasten, die inzwischen
eingeschaltet war, erhellte weithin das Gelände. Durch einige Bäume und
Sträucher bot sich dennoch zunächst ein guter Schutz, so dass die Vier an den
Boden geduckt zügig vorankamen. Sie hielten sich eng bei einander und verständigten
sich flüsternd und durch Zeichen. Schon bald bemerkten sie, dass in Kniehöhe
immer wieder Stolperdrähte gespannt waren, die mit Kontakten versehen waren und
nicht berührt werden durften. Wenig später tauchte vor ihnen der erste
Stacheldrahtzaun auf, an dem sie aber keine elektrischen Sicherungen und
Kontakte entdeckten. Sie schnitten sich daher eine schmale Öffnung und krochen
dann tief am Boden weiter nach vorn. In einiger Entfernung vor ihnen entdeckte
Lotti jetzt an langen Laufleinen umherstreifende Hunde, vor denen Felber und
die örtlichen Helfer sie nachdrücklich gewarnt hatten. An ihnen vorbei zu
kommen, war äußerst schwierig. Sie waren scharf abgerichtet, an ihren langen
Laufleinen in einem ziemlichen großen Wirkungskreis äußerst schnell und würden
bei der Entdeckung eines Fremden laut anschlagen und zielstrebig und gnadenlos
zubeißen. Also wandten sie sich nach links, um den Tieren auszuweichen. Vor
sich sahen sie nun das vorausgesagte achtzig Meter lange Grenzstück, in der die
Betonmauer eingerissen war und an dem sich jetzt keine Personen befanden.
Dieser kleine Grenzabschnitt war nur durch einen etwa drei Meter hohen,
doppelten Stacheldrahtzaun gesichert. Wenige Meter dahinter war bereits das
Wasser des Schaalsees.
Genau das war die Stelle, von der Felber und
die Freunde in Zarrentin berichtet hatten, die nur wenige Tage lockerer gesichert war. Die
Posten und Kontrollgänge waren hier zwar verstärkt worden und die Wachtürme mit
zusätzlichen Scheinwerfern versehen worden. Aber die Kontrollen erfolgten nur
in einem Rhythmus von zehn bis fünfzehn
Minuten und die direkten Posten am Zaun waren zur Nachtzeit abgezogen worden.
So waren außer dem doppelten Stacheldrahtzaun mit nach außen gerichteten,
spitzen Metallklauen, den Laufhunden in den seitlichen Vorfeldern und den
Wachtürmen in einiger Entfernung keine weiteren Grenzsicherungen auszumachen.
Eben kam noch der im Rhythmus verkehrende Militär-Jeep mit zwei Soldaten die
Betonpiste entlang. Dann wurde es still.
Nachdem sich Lotti, Inga, Tina und Sinners
die Schwimmanzüge angezogen und bis auf die Handschuhe, Zange und
Schraubendreher die Rucksäcke mit allem Inhalt zurück gelassen hatten, machten
sie sich auf den Weg zum Grenzzaun. Wenn sie sich hier noch einmal durch eine
schmale Öffnung durchschnitten, konnten sie mit etwas Glück unbemerkt den
Schaalssee erreichen, von dem sie wussten, dass er nur von zwei Schnellbooten
bewacht wurde. Schwimmend konnte man dann, wenn man nicht entdeckt wurde, die
Westseite des Sees bei Mölln erreichen. Das hatten sie alle am Tage noch einmal
durchgesprochen und intensiv das letzte Vorgehen trainiert. Die örtlichen
Helfer hatten sie ermutigt, da noch vor wenigen Tagen einigen Freunden hier
problemlos die Flucht gelungen war. Vor sich sahen nun die Vier ganz unmittelbar
die Grenzsperren aus Beton und Stacheldraht. Durch das nun immer ungeschützter
werdende Gelände liefen sie direkt auf den Zaun zu, griffen in den Stacheldraht
und durchschnitten ihn mit ihren Zangen. Das Gesicht und die Hände hatten sie
mit Schuhcreme geschwärzt und durch die dunklen Gummianzüge waren sie jetzt
kaum erkennbar, so dass auch das letzte Wegstück zum See mit etwas Glück
gelingen konnte.
Doch weder Lotti, noch Inga, noch Tina, noch Sinners hatten das erhoffte Glück. Sie hatten vielmehr von Anfang an keine Chance, denn sie wurden bereits im Zielgebiet erwartet.
Steffen hatte sofort nach dem Telefonat mit
mir die Nachricht der beabsichtigten Flucht der vier Freunde an die zuständigen
Polizei- und Militärdienststellen weiter geleitet und damit bereits wenig
später eine umfassende Überwachungs- und Sicherungsaktion bei den Grenzbrigaden
Mecklenburg-Nord und Mecklenburg-West ausgelöst. Erhöhte Alarm- und
Gefechtsbereitschaft wurde angeordnet, verdoppelte Kontrollgänge liefen an und
insbesondere im Ostseegebiet, aber auch im Gebiet um Zarrentin und um den
Schaalsee wurden erhöhte Kontrollmaßnahmen der Grenztruppen und Wachsoldaten
angeordnet.
Lotti, Inga, Tina und Sinners hatten die Aufschüttungen hinter den Stacheldrahtrollen zu den Büschen zum Schaalsee bereits überwunden, als sie das erste Mal angerufen wurden und neben ihnen Leuchtspur-Raketen aufstiegen. Nur wenige Augenblicke später flammten von einem Metallmast direkt am Grenzzaun grelle Scheinwerfer auf. Trotzdem gelang es den Vieren eng zusammen zu bleiben und aus den Lichtkegeln der Scheinwerfer zu entkommen, die wie Greifarme die Wege am Strand und am Wasser absuchten. Es ging jetzt um alles, das wussten sie. " Flach auf dem Boden," rief Lotti, " und dann rechts zu den Büschen und los."
" Weiter! ", rief er nach einigen
Sekunden. Und dann noch einmal schrill: " Los weiter!" Dann rannte er
los, direkt zum Wasser zu einem kleinen Strauch, winkte wie wild nach den
Anderen, die ihm folgen sollten, die aber zögerten nun, da sie nur wenige Meter
vor ihnen drei, vier Grenzsoldaten mit Maschinenpistolen im Anschlag sahen.
Lotti sprang jetzt - so war es verabredet - allein ins Wasser und schwamm los.
Inga lief ebenfalls zum See, hielt sich dabei aber mehr links und wurde von
zwei Grenzsoldaten, die sich in den Sträuchern verborgen hatten, ergriffen und
nach kurzem Kampf niedergeworfen und überwältigt. Sinners und Tina, die nach
rechts ausgewichen waren, versuchten ebenfalls zum Wasser zu kommen, stolperten
aber über Unebenheiten und gerieten in das Scheinwerferlicht. Geblendet von den
grellen Lichtkegeln verloren sie die Otientierung. Als unmittelbar neben ihnen
aus Maschinenpistolen und Schnellfeuergewehren geschossen wurde, warfen sie
sich auf den Boden und blieben dort wie gelähmt liegen. Nur wenige Augenblicke
später wurden sie von Grenzsoldaten hoch gerissen und festgenommen. Lotti
indessen, der ins Wasser gekommen war, versuchte so lange wie möglich unter
Wasser zu bleiben und so auf die andere Seeseite zu schwimmen. Er war aber
höchstens zwanzig oder dreißig Meter gekommen, als er auftauchen musste und von
der Landseite ein Sperrfeuer auf ihn einsetzte. Vom Wasser steuerte jetzt auch
ein Schnellboot auf ihn zu, das sofort das Feuer eröffnete. Lotti schwamm
verzweifelt weiter, versuchte erneut unter Wasser zu tauchen und zu entkommen.
Aber dann war das Schnellboot schon nahe bei ihm und es wurde ununterbrochen
auf ihn geschossen, ohne ihn auch nur einmal anzurufen oder zur Aufgabe der
Flucht aufzufordern. Wenig später wurde er dann auch von mehreren Geschossen in
den Kopf und in den Hals getroffen. Er war sofort tot.
Verhältnismäßig lange suchten sie dann im
Wasser und auch im nahen Uferstreifen nach ihm. Erst nach etwa zwei Stunden
wurde er gefunden und aus dem Wasser geholt. Es war das letzte, was wir von
Lotti erfuhren. Felber überbrachte uns nach Wochen diese Nachricht. Weiteres
haben wir auch später von Lotti nie wieder gehört.
Inga, Tina Hauff und Rainer Sinners wurden
nach ihrer Festnahme auf einem Armeelastwagen abtransportiert und kamen ins Untersuchungsgefängnis nach Schwerin.
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Die Dinge einfach ordnen
Ahrensberg drehte und wendete die halbfertige Seite. Das Papier war eingerissen, ein bisschen speckig und fettig.
Er suchte nach einem Abschluss. Aber es gab keinen.
Krause hatte seinem Ermittlungsbericht noch eine erste Vernehmung des Fahrers des Lkw vor Ort beigefügt, in der es hieß: Plötzlich kam jemand auf die Fahrbahn gestürmt. Ich konnte nicht mehr ausweichen, ging auf die Hupen und konnte nur noch bremsen. Sekunden später war der erste Aufschlag rechts vorn am Lastzug und kurz darauf fast an der gleichen Stelle noch einmal ein zweiter, bevor ich den Lastzug zum Stehen brachte. Ein Ausweichen war nicht möglich, da auf der linken Fahrbahnseite fast zur gleichen
Zeit neben mir ein Personenwagen fuhr und mich ziemlich schnell überholte.
Offenbar bemerkte jener Fahrer gar nichts von dem Geschehen vor mir, denn er
fuhr ohne Halt mit unverminderter Geschwindigkeit weiter.
Ahrensberg blätterte noch einmal die eine und die andere Seite in dem grünen Hefter durch. Dann klappte er den Hefter zusammen. Er hatte jetzt alles gelesen, was er zum Verständnis brauchte. Es war jetzt nur noch die eine oder andere Information einzuholen. Dann konnte die Sache an die Staatsanwaltschaft gehen.
Es klopfte an der Tür. Ein Mann öffnete
vorsichtig und trat ein." Ich habe das Licht bei ihnen gesehen,"
sagte der Mann. " Da dachte ich, ich bringe es ihnen gleich. Ich komme vom
Bereitschaftsdienst. Ich glaube, es ist eilig.
" Ja, natürlich, " erwiderte Ahrensberg und bedankte sich.
Es war ein Fax-Schreiben aus dem
Krankenhaus und der abschließende Untersuchungsbericht des Verkehrsunfalls.
Ahrensberg überflog zunächst die Mitteilung aus dem Krankenhaus und war nun
doch betroffen. Nicolas Hauptstein war seinen schweren Verletzungen erlegen. Er
hatte es also doch nicht geschafft. Er war um 22.23 Uhr verstorben.
Das wird ein größeres staatsanwaltliches Ermittlungsverfahren geben, dachte
Ahrensberg und blickte nachdenklich in den Rauch seiner Zigarrette. Zu
gern hätte er noch einige Dinge mit dem Richter besprochen. Das ging nun nicht
mehr.
Dem Unfallschreiben entnahm er, dass es keine weiteren Erkenntnisse gegeben hatte. Im Fond des Fahrzeugs von Hauptstein waren - wie Ahrensberg bereits wusste -, ein fünf Liter Reservekanister Benzin, eine mit Lappen umwickelte Klo-Bürste, zwei Einweg-Feuerzeuge und die leere Scotch-Flasche neben zahlreichen Tabletten-Packungen gefunden worden.
Ahrensberg schob den Hefter mit den Papieren zur Seite, drückte den Rest seiner Zigarette aus und wusste, was nun zu tun sei. Es war jetzt eine halbe Stunde vor Mitternacht.
Er packte seine Sachen zusammen, löschte das Licht im Büro und begab sich zu seinem Wagen. Er wollte ins Seven-Eleven und möglichst noch heute
mit Rosi Leitner und Birgit Maronke sprechen. Alle anderen interessierten nicht
mehr. Denn dass er von Ralph Castorff, von Brömer oder Julia Neuendorf,
die jetzt wohl in München irgendwo unterwegs war, noch etwas erfahren würde,
was er nicht bereits wusste, glaubte er nicht. Insbesondere zu Davidow oder
Harvener könnten sie ihm nichts sagen können. Dass diese Verabredungen
und Treffen von Hauptstein mit beiden Personen aber sehr eigentümlich und etwas
Besonderes waren und noch weiterer Aufklärung bedurften, stand außer Frage.
Wenig später traf er im Seven-Eleven ein und das Lokal war mäßig
gefüllt. Eine junge, rothaarige Dame führte ihn an einen der Tische in der Nähe
des Tresens und dort sah er eine junge Frau, die nach allen, was er gelesen
hatte, Rosi Leitner sein musste. Ahrensberg bestellte etwas zu trinken
und als die von ihm als Rosi Leitner vermutete Frau an seinen Tisch kam, bat er
sie, sich einen Moment zu ihm zu setzen und stellte sich vor.
Es war tatsächlich Rosi Leitner und Ahrensberg erklärte ihr, dass er nicht dienstlich hier sei, aber zu dem Richter Hauptstein einige Fragen
hätte. Herr Hauptstein sei nämlich tödlich verunglückt und da hätte er ein paar
Dinge ganz gern noch zu besprechen.
" Ach, du meine Güte," sagte Rosi Leitner sichtlich erschrocken. " Das ist ja furchtbar! Er war so ein angenehmer und sympathischer Mensch."
" Sie kannten ihn?"
" Nicht näher," erwiderte Rosi.
" Er kam seit ein paar Wochen hier ins Lokal und hatte in seiner Ehe wohl
erhebliche Probleme. Er erzählte immer wieder davon und war deswegen schon ein
bisschen malade. Aber sonst war er richtig nett. Nur zuletzt trank er stark."
" Wann war er das letzte Mal bei
ihnen?", erkundigte sich Ahrensberg.
" Vor etwa zwei Wochen. Er kam wegen
Heinz Tessmer und Birgit, die bei uns verkehren. Aber, ich kann es noch immer nicht glauben. Du lieber Himmel, dass dem Herr Hauptstein so etwas zugestoßen ist! Er war so vernünftig und ordentlich.
Die Trennung von seiner Frau und auch die Geschichte mit Tessmer haben ihn
allerdings ziemlich umgehauen."
" Sie haben mit ihm über Herrn Tessmer gesprochen?"
" Nicht viel. Aber
Tessmer und er kannten sich von früher und redeten von alten Zeiten. Vor
wenigen Wochen ist dann Heinz Tessmer gestorben. Er war sehr krank. Das hat uns
alle hier ziemlich mitgenommen. Ganz besonders natürlich Birgit, die mit ihm
Jahre zusammen war und jetzt überall wegen seiner Schulden den Kopf hinhalten
muss."
" Sie meinen Frau Maronke?"
" Ja, Birgit Maronke, um die sich übrigens Herr Hauptstein seit Tessmers Erkrankung intensiv gekümmert hat. Er war sogar einige Male mit ihr bei Tessmer im Krankenhaus, wie Birgit erzählt hat. Und er hat ihr ein bisschen mit Geld ausgeholfen. Zuletzt hat er dem Heinz sogar noch ein Einzelzimmer besorgt."
" Wissen Sie, ob Frau Maronke oderHerr Hauptstein einmal von einer größeren Summe Geld gesprochen haben und dass
es darüber Streit gab?"
" Streit über Geld, zwischen den Beiden? Nein. Es gab allerdings einmal mit Herrn Hauptstein eine irrwitzige
Geschichte über Geld. Aber das hatte mit Birgit nichts zu tun. Es ging dabei um
Vierzigtausend Euro um das Ten-Bottom,
die Herrn Hauptstein hier sehr beschäftigten, insbesondere, wenn er stark
getrunken hatte.“
" Ach? Erzählen Sie das bitte doch genauer,“ sagte Ahrensberg.
Rosi Leitner lachte. " Das hört sich
wegen der Summe nur etwas seltsam an. Es
war aber wirklich nichts. Es betraf nämlich etwas, das Herrn Hauptstein gar
nichts anging. Es ging um eine Rechnung für das Ten-Bottom, von der ich ihm erzählt und ihn um Rat gefragt hatte.
Denn er war doch Jurist und Richter. Mein Partner und ich sollten für die
Renovierung dieses Lokals Vierzigausend nachzahlen. Das fanden wir zu viel und
das sagte ich Herrn Hauptstein. Ich zeigte ihm sogar die Rechnung. Er ereiferte
sich darüber sehr und redete sogar von Betrug und Erpressung. Er war allerdings
auch an diesem Abend bereits ziemlich betrunken. Das Ganze hat sich dann aber
sehr schnell gütlich erledigt.
" Gab es sonst irgend etwas mit Geld ? "
" Was den Richter angeht, nein."
" Kennen Sie," fragte Ahrensberg dann übergangslos, " einen Josip Orlow? "
Rosi Leitner zog ein wenig die Augenbrauen
zusammen, sah Ahrensberg einen Moment mit
kleineren Augen an und erwiderte dann: " Wissen Sie, die meisten
würden jetzt wahrscheinlich nein sagen. Ich habe den Namen nie gehört. Der Mann
ist mir völlig unbekannt, einfach, weil sie mit der Polizei wegen dieses Typen
nichts zu tun haben wollen. Aber, ich habe nichts zu verbergen und Sie fragen
so direkt, Herr Kommissar, dass ich meine, Sie gehen davon aus, dass ich ihn so
wie so kenne. Also, was soll ich da herum reden. Ich kenne Josip Orlow. Er
kam früher oft hierher. Aber jetzt schon eine Ewigkeit nicht mehr. Er ist schon
bestimmt ein halbes Jahr nicht mehr hier gewesen."
" Ein halbes Jahr war er nicht
hier?", sagte Ahrensberg erstaunt.
" Wenn ich es doch sage, mindestens seit fünf oder sechs Monaten nicht. Und wenn er kam, gab es immer Krach, entweder mit den Gästen oder mit
den Mädels. Ich bin froh, dass er nicht mehr kommt. Meines Erachtens ist er
seit längerer Zeit im Ausland. Es ist ein ziemlich wilder Bursche.“
" Kannte Herr Hauptstein ihn?"
" Den Orlow, meine Güte, nee! Zu der Zeit, als Orlow kam, war der Richter bei uns noch gar nicht Gast." Rosi legte jetzt aber den Finger an die Stirn und schien nachzudenken.
" Allerdings, vor ein paar Wochen
erinnere ich mich jetzt, hat mich Herr Hauptstein 'mal nach Orlow gefragt.
Ich habe mich noch gewundert, weil der schon zu der Zeit gar nicht mehr kam.
Ich konnte ihm daher auch nur sagen, was ich ihnen eben erzählt habe. Aber auch
an dem Abend war Herr Hauptstein stark angetrunken und redete, auch was Orlow
anging, nur unverständliches Zeug. Ich kann aber Dani oder die anderen Mädels
fragen, ob sie etwas von dem Richter und Orlow wissen."
Rosi verschwand kurz und erklärte, als sie zurückkam, dass auch die Mädels nur wüssten, dass der Josip seit Monaten im Ausland sei und ihnen von Orlow und Herrn Hauptstein nichts bekannt sei.
Ahrensberg bedankte sich und sagte dann:
" Meinen Sie, dass Frau Maronke hier heute noch erscheinen wird?"
" Das glaube ich nicht," erwiderte Rosi. " Sie war in der letzten Zeit kaum hier und hat wegen Tessi alle Hände voll zu tun. Sie hat auch, wie sie mir am Telefon sagte, eine
neue Stelle und muss dort kräftig ran.
Und dann gibt es auch einen neuen, alten Verehrer, der ihr, seit er von Tessi’s
Abgang weiß, förmlich die Bude einrennt. Das ist für sie momentan ziemlich
stressig. Da kommt sie nicht hierher."
" Trotzdem muss ich Frau Maronke ein paar Fragen stellen. Haben Sie ihre Adresse?", sagte Ahrensberg.
" Aber ja," lächelte Rosi, " auch wenn Sie mich langsam hier zum Hilfs-Sherif der Staatsmacht machen."
" So schnell geht das nun auch bei uns nicht, keine Sorge," schmunzelte Ahrensberg.
" Aber, wenn wir schon dabei sind, vielleicht können Sie mir auch noch verraten, ob Sie den Namen Harvener, Werner Harvener, ’mal gehört haben."
" Harvener? Wer soll denn das sein?
Von dem habe ich noch nie im Leben gehört."
" Das habe ich mir fast gedacht,"
sagte Ahrensberg.
" Wissen Sie," meinte Rosi abschließend," der Richter war schon ein sympathischer Kerl, vielleicht ein bisschen eigenwillig, manchmal auch, wie auf der Flucht, eben
gewöhnungsbedürftig, wie diese Juristen sind. Aber meistens war er schon in
Ordnung. Er hat hier viel geschrieben und getrunken."
Als Ahrensberg ging, hatte er das Gefühl, alles, bis auf einige, wenige Fragen an Birgit Maronke, geklärt zu haben. Das würde er Morgen früh besorgen.
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Für niemanden bestimmt
Birgit Maronke wohnte in Berlin-Schöneberg in der Grunewald-Strasse.
Als Ahrensberg am nächsten Morgen kurz vor
acht Uhr an ihrer Wohnung klingelte und danach die Treppen hochgestiegen war,
öffnete ihm eine hochgewachsene, lässig gekleidete Frau um die Vierzig in
dunkler Cordjacke und Jeans mit schulter-langem, braunen Haar die Tür. Sie war
offensichtlich gerade dabei, die Wohnung zu verlassen, denn sie hatte bereits
ihre Tasche über die Schulter gehängt und hielt ein Frühstücksbrot und die
Schlüssel in ihrer Hand.
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